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Reichsgründung und des Kaiserreichs geprägt wurde und ganz selbstverständlich von Antisemiten wie Nicht-Antisemiten ausgesprochen wurde. Die Peinlichkeit, ihn zu verwenden, entstand ebenfalls erst viel später.

Dass aber „erst durch den Nationalsozialismus mit seinem Rassismus und Judenhass“ ein Gegensatz von Juden und Deutschen konstruiert wurde, muss entschieden widersprochen werden. Rassismus und Judenhass waren zentrale Gedanken und Praxen vom einfachen Vorurteil des Einzelnen über weltanschauliche Vereinsbildungen bis zu diskriminierenden Aktionen in der Öffentlichkeit, - Erfahrungen gerade im Kaiserreich, denen sich keine Jüdin und kein Jude entziehen konnte. Der Antisemitismus in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft war eine Begleiterscheinung des Nationalismus nach der Reichsgründung und ging einher mit den Emanzipationsgesetzen, die im Kaiserreich durchgesetzt worden waren. Der Antisemitismus in Theorie und Praxis, in Gedanke und Aktion, in Vorurteil
und Organisation von Vereinen und Parteien war nicht immer und überall gleich stark ausgeprägt, er unterlag in den Jahren „Konjunkturen“.

Auch in Steinheim. Hinweise auf lokale Erfahrungen finden sich in den Erlebnisberichten und Kommentaren in  jüdischen Wochenzeitungen aus den Jahren 1891 und 18954 (beide sind am Ende dieses Textes vollständig zitiert). Für das Jahr 1911 mögen hier zwei Zeitungsartikel genügen – die vielleicht nicht die persönliche Auffassungen, etwa von Ludwig Meyer-Gerngross vollständig treffen, aber allemal typische Erfahrungen und Stimmungen von Deutschen jüdischen Glaubens zur damaligen Zeit wiedergeben und die ihm sicherlich nicht fremd waren:

Am 27. Januar wird in Deutschland und allerorten, wo Deutsche wohnen, des K a i s e r s G e b u r t s t a g festlich begangen. Unter den Glückwünschenden befinden sich die Juden wie alle übrigen Deutschen, wes Glaubens sie auch sind. Zwar unter den persönlichen Gratulanten sieht man sie nicht und auch nicht an der Prunktafel, die der Deutsche Kaiser gibt. Aber nicht, weil sie sich ausschließen, sondern weil sie von den höchsten Aemtern ausgeschlossen sind. Während in Italien und Frankreich, in England und der Türkei Juden ihren Platz unter den hohen Beamten des Zivils und Militärs einnehmen, haben die deutschen Juden, die an Kultur und Wissen, an Bildung und Reichtum hinter denen anderer Länder wahrlich nicht zurückstehen, keinen Platz unter den Hohen der Erde. Und doch haben sie sich um das Reich recht wohl verdient gemacht und auch um den Kaiser. Als aus des Kaisers eigenster Initiative der fruchtbare Gedanke zur Tat wurde, Forschungsinstitute für die Wissenschaft bei Gelegenheit der Zentenarfeier der Berliner Universität einzurichten, haben deutsche Juden höchst stattliche Summen beigesteuert. Sie taten es nicht oder nur ausnahmsweise in Hoffnung auf Titel und Orden, sie lieferten die großen Summen nicht immer aus reiner Liebe zur Wissenschaft, sondern sie gaben sie eben auch aus Liebe zum Kaiser. Se knüpften, was ihnen wohl angestanden hätte, keine Bedingung an ihre Spende. Wir glauben und hoffen noch immer, daß nicht der Kaiser es ist, von dem die ungleiche Behandlung der Juden ausgeht. (…) Und so ist unser Wunsch zum Geburtstag des hohen Herrschers ein Appell von dem nicht genügend Unterrichteten an den besser zu Unterrichtenden; der Wunsch, daß der Monarch, der nach Gerechtigkeit strebt, auch Gerechtigkeit spende d e r  Glaubensgemeinschaft, deren Söhne mit Aufopferung ihrer ganzen Kraft wirken und arbeiten für das Heil des Vaterlandes und hin den anderen Bürgern des Deutschen Reiches nicht zurückstehen in dem Gefühle der Ehrfurcht und Liebe für den Herrscher des herrlichen Deutschen Reichs.5

Am Ende des Jahres 1911 zieht die gleiche Zeitung in der gleichen Rubrik Bilanz:

Das Jahr 1911 neigt sich seinem Ende zu. Wir haben keinen Anlaß, ihm eine Träne nachzuweinen. Die Verhältnisse unserer Glaubensbrüder im Osten haben sich eher verschlimmert, die in Deutschland nicht gebessert. (…) In Deutschland ist vonseiten der Juden wacker gearbeitet worden. Wenn auch vielfach der Unken-

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4Die beiden Zeitungsmeldungen aus den Jahren 1891 und 1895 finden sich im Anhang zum Text wiedergegeben.
5Vgl. Allgemeine Zeitung des Judentums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse, Heft 4 vom 27.1.1911,
75. Jg., Rubrik: Die Woche, S. 40), Fundstelle ebenfalls im Anhang

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